Sonntag, 18. Mai 2008

Bartleby der Schreiber

„Bartleby – Der Schreiber“ erzählt die Geschichte eines New Yorker Anwalts, dessen Persönlichkeit durch die Verweigerungshaltung seines Angestellten Bartleby nachhaltig erschüttert wird. In einer Phase wirtschaftlichen Booms, erfüllt vom Glauben an Vernunft und Fortschritt, engagiert der Jurist und Erzähler einen Schreiber, der bald alle ihm angetragenen Tätigkeiten mit der Formel „I would prefer not to – Ich möchte lieber nicht“ zurückweist. Der Anwalt ist aufgebracht, angeekelt, abgestoßen – und zutiefst fasziniert. Mit Bartleby ist eine Skepsis in seine Kanzlei eingezogen, die er nicht mehr loswerden wird, weil sie menschlich ist.

 

In seiner 1853 erschienenen Erzählung zeichnet Hermann Melville schon sehr früh eine Figur, die der rationalistischen Moderne ihre Sinnhaftigkeit abspricht und sich entfremdeter Arbeit ganz einfach widersetzt. So stellt die friedfertige Andersartigkeit Bartlebys wie nebenbei das Fundament infrage auf dem unsere westliche Zivilisation ruht: den Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt und die Kontrolle des Schicksals.

 

Regisseur Markus Bauer hat den Stoff mit Schauspieler David Tobias Schneider als wahnhaftes Selbstgespräch eines Start Up-Unternehmers erarbeitet. Entstanden ist eine Figur, der wir so oder ähnlich jeden Tag auf unseren Straßen begegnen. Ein junger Mann, der an den verdrängten Zweifeln, die jeden von uns bisweilen befallen, wenn wir am Morgen unsere Arbeitsplätze einnehmen, zerbrochen ist.

Mein Solostück mit dem Theaterkonstanz

David Tobias Schneider in "Bartleby" im Theaterfoyer.

Schorpp

Der Mensch ist ein Aktivist. Pausenlos baut er um sich herum auf, um wieder abreißen zu können. Und um wieder aufzubauen. So der Ich-Erzähler in Herman Melvilles Geschichte "Bartleby, der Schreiber", wie ihn Markus Bauer derzeit im Foyer des Stadttheaters auf die Bühne bringt. Oder richtiger: auf die Rampe hievt, wo sein Schauspieler David Tobias Schneider in manischem Getriebensein die Umzugskisten nebeneinander anordnet, dann aufeinander stapelt oder einfach herumstehen lässt.

Markus Bauer hat die Erzählung als solche inszeniert, und David Tobias Schneider gibt sie auf seiner kleinen quadratischen Bühnenrampe wieder. Es ist kein abgeklärter Erzähler, dieser Notar, den die Begegnung vor Jahren offenbar nie mehr losgelassen hat. Wie Schneider die Geschichte regelrecht heraus spuckt, könnte es sogar sein, dass sie ihn heute noch mehr erregt als damals, als Bartleby sich bei ihm einnistete und er versuchte, ihn wieder loszuwerden. Denn Bartleby entpuppt sich als Totalverweigerer. "Ich möchte lieber nicht" wird zu seiner stereotypen Antwort auf Aufforderungen und Anweisungen. Da helfen auch keine arbeitsrechtlichen Maßnahmen.

Wenn man Bauer etwas vorhalten muss, dann, dass er diesen unerhörten Satz zu oft gestrichen hat in seiner Bühnenversion. Ansonsten hat er die Mitte des 19. Jahrhunderts erschienene Parabel, die man, wenn man will, auf allerhöchstes Niveau verallgemeinern kann, verblüffend einfach auf heutige Zeiten heruntergebrochen. Er hat Melvilles Erzählung mit dem Sprach-Duktus der New Economy versehen, was zunächst etwas gewollt wirken könnte, dann aber fast von selbst funktioniert. Das Koks, das schnelle Geld, die Partys mit dem anonymen Sex passen ins Melvillesche Bild. Schließlich hat der Autor selbst mit "Eine Geschichte aus der Wall Street" untertitelt.

Wie man also hört, verweigert eines Tages Bartleby seine Arbeit in der Kanzlei des Erzählers mit den Worten "Ich möchte lieber nicht". Stattdessen steht er da und starrt gegen die Wand. Der Notar versucht ihn mit erstaunlicher Geduld zu überreden, seine Pflicht zu erfüllen. Vergeblich. Als der renitente Arbeitnehmer sich dann auch noch im Büro einnistet, wird die Hilflosigkeit seines Chefs offensichtlich: Anstatt es von der Polizei räumen zu lassen, gibt der Notar sein Büro auf. Wie der Schauspieler seinen Profiteur, immer noch in der Uniform des Geldmachers, bei der Erinnerung über die Rampe rennen oder in sich selbst versinken lässt, merkt man, dass er sich bei Bartleby bereits angesteckt hat. Der Zweifel hat ihn erfasst, die tödlichste aller Infektionskrankheiten für den Macher Mensch. Zumal in der Wall Street.

Weil Herman Melvilles Parabel für viele Deutungsmöglichkeiten offen ist und David Tobias Schneider seinen Erzähler nicht festnagelt, darf man die Bedeutungsebene durchaus nach oben zum Allgemeinmenschlichen steigen. Das gibt diesem Abend, der auch als intimes Late-Night-Theater stattfindet, erst das richtig Prickelnde.

Maria Schorpp

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